Ein Vortrag von Geseko von Lübke zur Tagung der ev. Akademie Tutzing
"Das Große ganze - und wir mitten drin".
Die Tagung wurde auf 2022 verschoben.
Der eindrückliche Vortrag wird hier mit Erlaubnis von Herrn von Lübke online gestellt.
Das Ende des Dualismus und der Anfang der Verbundenheit
Liebe Gäste an dieser Online-Tagung:
Ich will meinen Vortrag mit ein paar zitierten Worten einleiten, die jeder von Ihnen schon mal gehört hat – in der Predigt, in der Schule, im Konfirmationsunterricht oder sonst wo. Sie stammen aus der 'Genesis' dem 1. Buch Mose in der Bibel. Also der folgenreichen Schöpfungsgeschichte unserer Zivilisation, einer Art Zielvorgabe, die vor rund 3000 Jahren formuliert wurde. Ich zitiere:
Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde. (…) Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht. (…) Und es geschah also.
Wie gesagt: Dreitausend Jahre mag es her sein, dass man die damals geltende Schöpfungsgeschichte so zusammenfasste, weitererzählte, sechs Jahrhunderte später aufschrieb und vorlas: So prägte sie sich ein in die kulturelle Erinnerung, bis sie zum Bodensatz unserer Seele wurde, eine mythische Wahrheit, die alles durchdringt.
Einerseits. Aber andererseits steht dieser biblische Mythos in krassem Gegensatz zu dem, was wir in der Schule und Universität lernen, in der modernen wissenschaftlichen Literatur lesen und was dem gesunden Menschenverstand entspricht:
Denn der rationale Verstand der Moderne lässt scheinbar wenig übrig von den sentimentalen Gefühlen: Der Schöpfung in sechs Tagen, plus Ruhepause in der Bibel, steht die jüngste Erkenntnis von 15 bis 20 Milliarden Jahren kosmischer Evolutionsgeschichte gegenüber. Die Erschaffung des Himmels nach Fertigstellung der Erde lässt Kosmologen müde lächeln, an den Menschen nach dem Abbild Gottes mag nach einem Jahrhundert der Völkermorde niemand mehr so richtig glauben. Und doch ist – bei aller Vernunft – etwas hängengeblieben vom Schöpfungs- und Herrschaftsauftrag von ganz Oben. Wie heißt es in der Bibel? „Und es geschah so!“
Blicken wir also zurück: Es war zu Beginn der industriellen Revolution, als die Wissenschaft begann, eine eigene Schöpfungsgeschichte festzulegen. Vor 136 Jahren erst, 1885, wurde auf einem geologischen Kongress im viktorianischen London beschlossen, erstmals ein Erdzeitalter auszurufen. Es hatte nach Meinung der Wissenschaftler vor knapp 12.000 Jahren begonnen, als die letzte Eiszeit zu Ende ging, das Mammut ausstarb und sich die Kultur des Menschen durch Ackerbau und Viehzucht entwickelte.
Man nannte es damals das ‚Holozän‘, was so viel bedeutet, wie das ‚ganz Neue‘. Als man es proklamierte, war es die Zeit von Darwins Evolutionstheorie. Die Idee des Kampfes Aller gegen Alle beherrschte die Köpfe, die Zeit der weltweiten Kolonisierung und der gnadenlosen Ausbeutung begann. Das ‚ganz Neue‘ wuchs und überzog die Erde. Und war – trotz aller Wissenschaftlichkeit – eigenartig verbunden mit dem biblischen Schöpfungsauftrag, der da doch lautete ‚macht euch die Erde untertan‘ … . Doch auch das ‚ganz Neue‘ von 1885, das ‚Holozän‘, schien gute 100 Jahre später schon überholt …
Es ist mittlerweile 21 Jahre her, dass der vor vier Monaten verstorbene Atmosphärenchemiker Paul Crutzen im Jahr 2000 in Mexiko in einem Gremium saß, wo dieser Begriff 'Holozän' immer wieder fiel. Irgendwas stimmt hier nicht, muss er sich gedacht haben, bis er den Redner unterbrach. In einem Interview erinnerte sich der Nobelpreisträger. Ich zitiere:
„Plötzlich habe ich ihn darauf hingewiesen, dass wir nicht mehr im ‚Holozän‘ sind, sondern im ‚Anthropozän‘. Als ich das gesagt hatte, war es still im Raum. Das Anthropozän sagt uns eigentlich: Die Menschheit hat das Ruder übernommen. Wir sind nicht länger nur ein Teil der Natur. Wir beeinflussen beispielsweise die Atmosphäre durch unser Handeln. Davor, im Holozän, gab es das Gefühl, wir könnten niemals mehr bewirken als die Natur.“ (Zitat Ende)
‚Anthropozän‘ bedeutet, folgt man der griechischen Wurzel, ‚dass menschengemachte Neue‘. Ein Begriff für Geologen zunächst, die sich pflichtgemäß daran machten, zu überprüfen, was an der These Paul Crutzen’s dran war: Ist der Mensch tatsächlich zum beherrschenden, geologisch relevanten Faktor geworden?
Tatsächlich, und zum Schrecken des Einzelnen, summieren sich die kollektiven menschengemachten Schäden am Planeten Erde ins Gigantische. Geologisch haben Tausende von Atomversuchen oder ein dutzend Kraftwerks-Störfälle wirklich überall eine unauslöschliche Schicht strahlender Substanzen hinterlassen. Nicht nur das: Wir bewegen heute siebenmal mehr Sand, Steine, Humus, als es die Erde unter dem Einfluss von Wind, Wetter und Gezeiten schafft. Mit dem menschengemachten CO2-Ausstoß sind wir nicht nur Wettermacher geworden und heizen – einst unvorstellbar – den ganzen Himmel auf! Wir provozieren auch das größte Artensterben, seit vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier ausgestorben sind. Durch den Einfluss des Menschen ist der Verlust biologischer Vielfalt zehn- bis hundertmal höher, als wenn es der Natur selbst überlassen wäre. Die Wirkung des Menschen ist nicht nur in Punkto Klima immens. Helmuth Trischler, Geschäftsführender Direktor der Deutschen Museums in München, erklärte mir im Gespräch – ich zitiere:
„Nehmen wir das Beispiel Plastikmüll in den Meeren. Auf einen Teil Plankton in den Weltmeeren, kommen je nach Region zwischen 7 und 15 Teile Plastik kommen. Also Plastik überwiegt in den Weltmeeren um ein Vielfaches bereits das Plankton.“
Mehr als je zuvor in der Weltgeschichte ist also eine Spezies – nämlich der Mensch – tatsächlich heute in der Lage, den gesamten Rest der Biosphäre mit zu prägen. Menschliche Aktivität greift in alle großen geo-bio-chemischen Kreisläufe ein: CO2 wird zu einem Viertel von Menschen produziert, 60 % aller erreichbaren Süßwasser-Reserven werden von ihm reguliert, 60 % des Stickstoffs wird über die Düngemittelproduktion gebunden. Das führt zu einer teils absurden, teils dramatischen Situation:
Wir glauben die Natur gebändigt zu haben und es ist genau das Gegenteil passiert. In allem, was wir tun, stellen wir zum einen das Produkt her, was wir herstellen wollen. Indem wir Zahnpasta produzieren, produzieren wir nicht nur Zahnpasta, sondern gleichzeitig Stoffe, die sich in Pinguinen einlagern. Oder wir verändern das Klima, indem wir Energie verbrauchen.
Das heißt, unser Bewusstsein hält noch fest an dem Bild von der Natur als das Äußere, das Andere zu uns. Dabei ist mittlerweile alles, was wir in der Umwelt vorfinden, physisch immer schon eine Synthese zwischen Kultur und Natur. Wir sind also zu Gestaltern und Gestalterinnen dessen geworden, was wir physisch als Natur wahrnehmen.
Alles deutet darauf hin, dass Paul Crutzen damit Recht hatte, das aktuelle Zeitalter deutlich von der Vergangenheit abzusetzen. Das ‚Anthropozän‘ ist Realität. Der Begriff, den noch kaum jemand kennt, sickert nun langsam in das öffentliche Bewusstsein ein. Doch was ist mit dieser bedrohlichen Realität anzufangen: Der Mensch als Beherrscher der Schöpfung – ist das die Konsequenz!? Andreas Weber, Berliner Biologe und Philosoph fühlt sich an Goethes Metapher vom Zauberlehrling Mensch erinnert, der plötzlich erkennt, dass er mit den Konsequenzen seines Handelns überfordert ist. Ich zitiere aus einem Gespräch mit ihm:
„Das Anthropozän ist die Epoche, in der der Einfluss des Menschen auf alle natürlichen Systeme so groß ist, dass wir sie nur als 'Natur plus Mensch' verstehen können. Die Chance dieses Begriffs - und darum benutzt ihn auch Crutzen und viele andere - die Chance dieses Begriffs besteht natürlich darin, eine gigantische Warnung an die Wand zu malen. So: "Seht her, Menschen! Jetzt sind wir inzwischen so weit, dass wir die ganze Erde beherrschen. Das ist wirklich massiv. Und jetzt sollten wir uns etwas einfallen lassen!"
Dann ist es eun Apell an unsere Veranstwortung. Und doch ist das ‚Anthropozän‘ auch ein Wort, das gefährlich schnell missbraucht werden kann. Das wie die finale ‚Vollzugsmeldung‘ des umstrittenen biblischen Auftrages ‚Macht Euch die Erde untertan‘ klingt: ‚Mission accomplished!‘ Ein Wort, das der viel zu massiven menschlichen Einflussnahme auf natürliche Prozesse ein Mäntelchen der Legitimation des Unausweichlichen umhängt: ‚So ist es jetzt halt!‘. Ein Wort, das, so der Philosoph und Biologe Andreas Weber, den Wahn der menschlichen Allmacht zur Normalität erklärt und die totale Kontrolle alles Natürlichen zur Selbstverständlichkeit. Er sagte mir:
„Das Problem in meinen Augen im Anthropozän ist nicht, dass der Mensch als Schädling verstanden wird, sondern dass die Hände in den Schoß gelegt werden und akzeptiert wird, dass eine enge Sichtweise des Menschlichen, nämlich als technische Rationalität, die gesamte restliche Welt dominiert - und das wird einfach akzeptiert.“
Und er ergänzt:
Ich sehe da ganz oft eine heimliche feindliche Übernahme. Wenn zugestanden wird, dass alles Nicht-Menschliche irgendwie eine menschliche Überhüllung hat inzwischen, dann ist die Konsequenz, weil wir ja unsere Erde retten wollen, dass wir alles in irgendeiner Weise kontrollieren müssen. Das klingt dann nett, aber ist eben doch die endgültige Einhegung, die endgültige Kolonialisierung. Dahinter ist eine wahnsinnige Kontroll-Utopie zu Gange.
Ein Kontrollwahn, der die moderne industrielle Forschungswelt bereits wie ein Paradigma durchzieht. Er steht hinter der gentechnischen Manipulation lebendiger Pflanzen und Organismen ebenso, wie hinter dem milliardenschweren Ansatz der Nano-Technologie, die aus kleinsten atomaren Bausteinen gänzlich neue Werkstoffe, chemische Verbindungen, Organismen, Rohhöl, Naturschätze oder Nahrungsmittel erschaffen will. Da wird mit avantgardistischen Technologien nicht weniger versucht, als eine neue Schöpfung aus dem Labor, sagt der Kanadier Pat Mooney, der für seine kritischen Blick auf gefährliche Forschungsvorhaben mit dem ‚alternativen Nobelpreis‘ ausgezeichnet wurde. Ich zitiere ihn:
Wir sind auf dem Weg in eine Kultur, die behauptet, dass wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt unausweichlich ist und ihre Ideen so perfekt, dass wir ihnen die Entscheidung über unsere Zukunft überlassen sollten. Wir verlieren dabei jedes Maß, wir verlieren unser inneres Wissen, was Leben und Natur eigentlich sind. Mit der Nano-Technologie will man Kontrolle über alle Rohstoffe der Welt gewinnen. Mit der synthetischen Biologie will man die Kontrolle über die Biomasse der Welt gewinnen und Bakterien und Mikroben dazu bringen, alles herzustellen, was bislang mit Hilfe von Öl produziert wird. Die Kombination dieser Technologien gibt dann Kontrolle über das planetare System, Kontrolle über die Stratosphäre oder Kontrolle über die Ozeane, mit der wir uns aus dem Klimawandel herausretten wollen.
Ein Größenwahn des Menschen als ‚Schöpfer‘, den der Soziologe Horst-Eberhardt Richter einmal warnend den ‚Gotteskomplex‘ genannt hat. Und tatsächlich glauben die ‚Götter‘ in den Laboren, alles managen zu können: Weil wir Menschen dem Planeten einen Klimawandel beschert haben, könnten wir, sagen sie, Ozeane so impfen, dass sie Kohlendioxid binden und Wolken so weiß färben, dass sie Sonnenstrahlen wieder ins All reflektieren, ja sogar mit künstlichen Vulkanausbrüchen die Stratosphäre verdunkeln. ‚Geo-Engeneering‘ nennen sich diese Gedankenspiele. Was dadurch in dem eng vernetzten lebenden System Erde angerichtet wird, wird unter dem Deckmantel der zivilisatorischen Rettung der Erde vor den Folgen des Klimawandels kaum noch diskutiert, kritisiert wütend Vandana Shiva, indische Quantenphysikerin und wie Pat Mooney Trägerin des alternativen Nobelpreises. Und kündigt im Gespräch mit mir den Widerstand der globalen Zivilgesellschaft an:
Hinter dem Ansatz des Geo-Engeneering steht der Plan, die gesamte Natur des Planeten zu verändern und das damit zu begründen, dass nur so der Klimawandel zu stoppen sei. Wer künstliche Vulkanausbrüche will, um das Sonnenlicht zu absorbieren, handelt verantwortungslos, weil völlig unklar ist, was dann auf den Feldern und mit unserer Ernährung passiert. Die Erde ist unsere Mutter. Jede Gewaltanwendung ihr gegenüber im planetaren Maßstab – sei sie kommerziell, militärisch oder wissenschaftlich begründet – kommt einer Vergewaltigung der Erde gleich. Das werden wir nicht zulassen!
Ähnlich rigide erobert zurzeit der wissenschaftliche Ansatz der ‚Bioökonomie‘ Universitäten wie große Unternehmen und wird mit Milliardeninvestionen von Bund und Land gefördert. Biomasse heißt das neue Zauberwort. Das Grün der Welt, Bakterien und genmanipulierte Organismen sollen fossile Rohstoffe ersetzen und nicht nur Benzin und Energie bereitstellen, sondern im Labor Kunststoffe, Plastik, Medikamente, Baumaterialien, Kleidung, ja sogar Fleisch produzieren. Diesen irreversiblen Versuch, alles, was lebt, zur Ware zu machen, nennt der Autor, Ökologe und Theologe Franz-Theo Gottwald einen ‚totalitären Ansatz‘. Ich zitiere
Das, was uns bisher vorgegeben war und was wir bisher global als ‚Natur‘ bezeichnet haben, wird auf der Basis dieser Technologien zu einem Design. Wenn wir alles selber im Labor kreieren können, gilt der alte normative Rahmen, was wir sollen und was wir nicht sollen und wie wir Leben in seiner Integrität und Würde wertschätzen sollen, nicht mehr. Der bioökonomische Ansatz verabschiedet jedes Konzept von Integrität von pflanzlichem und tierischem Leben und macht die Pflanzen und die Tiere komplett, im biblischen Terminus gesprochen, ‚dem Menschen untertan‘. Die haben keinen Eigenwert mehr. Und das ist etwas Reduktionistisches und gerade darin totalitär. Die kulturellen, religiösen, spirituellen Aspekte dieses sogenannten Anthropozäns sind nicht wirklich reflektiert.
Derartige Kontrollphantasien sind global fraglos auf dem Vormarsch. Doch es gibt, bis in die hohe Politik, auch andere Möglichkeiten, mit dem ‚neuen Erdzeitalter‘ umzugehen: Der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon eröffnete schon vor acht Jahren die Kopenhagener Klimakonferenz mit dem Hinweis auf das Anthropozän und die globale Verantwortung, erreichte mit seinem Apell aber nicht die Herzen der Delegierten. Zweifel und Zögern ließen das Treffen 2009 scheitern.
Bei der Klimakonferenz in Paris 2015 spielte der Begriff des ‚Anthropozäns‘ vordergründig keine zentrale Rolle. Aber es war nicht weniger als das kollektive Bewusstsein über die gigantische Rolle des Menschen als Herrscher über Naturprozesse, das über 200 Staatschefs dem Klimaabkommen zustimmen ließ: Das kollektive Wissen, auf ein ‚Weiter so‘ und auf ein Stück menschliche Macht des 'Everything is possible' verzichten zu müssen
Das erkannt zu haben, war wohl der eigentliche Erfolg der Pariser Klimakonferenz. Denn passiert ist sonst eigentlich wenig: die Teilnehmerstaaten einigten sich lediglich auf eine gemeinsame Absicht, den globalen Temperaturanstieg unter 2 Grad Celsius zu halten. Nichts desto trotz waren die letzten sechs Jahre die wärmsten aller Zeiten und der CO2-Ausstoß stieg global weiter an.
Trotzdem war 'Paris' historisch: Dort wurde erstmals international und interkulturell anerkannt, dass der Mensch nicht länger mehr als Herrscher getrennt von der Natur agieren kann. Dass er und sein schöpferischer Geist nicht außerhalb des Systems stehen und er wie Gott über die materielle Welt herrschen kann, sondern das alles, was der Mensch der Natur antut, er sich selbst antut. Dass also Kultur und Natur unmittelbar zusammenhängen!
Und damit geschah philosophisch, weltanschaulich, ja sogar theologisch etwas höchst spannendes. Denn wenn Kultur und Natur zusammenhängen, bedeutet das:
Die dualistische Trennung zwischen Geist und Natur, die seit der Aufklärung die philosophische Grundlage des gesamten modernen Weltbildes war, gilt im Zeitalter des Anthropozäns nicht mehr. René Descartes ‚Ich denke, also bin ich!‘ hat sich in ein: ‚Ich bin ein Teil und verbunden, also bin ich‘ gewandelt. Der schmerzhafte Gegensatz zwischen Mensch und Umwelt ist denkgeschichtlich Vergangenheit, sagt auch der Philosoph und Biologe Andreas Weber. Ich zitiere wieder aus dem aufschlußreisen Gespräch mit ihm:
Das Anthropozän ist unsere große Chance zwischen Natur und Kultur zu vermitteln. Das ist eigentlich die Chance, denn die alten dualistischen Abgründe werden eingeebnet. Oder anders gesagt: Eine der zentralen Positionen der Aufklärung ist überwunden. Und das ist eine wahnsinnig große Chance. Denn diese Spaltung zwischen den Dingen und der Menschenwelt hat eben dazu geführt, dass die Dinge oder die anderen Lebewesen leiden oder vernichtet werden. D.h., wir müssen diesen historischen Moment nutzen und durch die Tür gehen.
Diese Überwindung der Trennung zwischen Mensch und Natur ist kein verträumter Impuls aus dem philosophischen Elfenbeinturm, sondern mittlerweile auch Konsens in der nüchternen naturwissenschaftlichen Diskussion. Helmuth Trischler, Technikhistoriker, Forschungsdirektor des Münchner Deutschen Museums und Ausrichter einer ersten Anthropozän-Ausstellung, hat es mir gegenüber so formuliert:
Ich bin der Überzeugung, dass wir diesen Dualismus über Bord werfen müssen - den Dualismus zwischen Mensch und Technik, den Dualismus zwischen Mensch und Natur. Wir müssen über ihn hinausdenken. Und nur so können wir unserer Verantwortung gerecht werden und unsere Position als Menschen, die mit Natur in Wechselwirkung sind, gerecht werden.
Diese Tür in eine Denkepoche jenseits des Dualismus bedeutet grundlegende Veränderungen im Selbst- und Menschenbild. Wenn der Mensch nicht mehr außerhalb der Natur steht und aus Umwelt ‚Mitwelt‘ wird, dann gilt es, mit der Natur in uns, klar zu kommen. Den unzivilisierten Körper, die sprudelnden Gefühle, die blühende Phantasie, die unkontrollierbare Liebe, die wilden Gedanken zu akzeptieren und die wilde unkontrollierbare Natur als Grundlage unserer Lebendigkeit und Verbundenheit anzuerkennen, sagt der Philosoph Andreas Weber. Zitat:
Dass wir sehen: Es gibt etwas Wildes im Menschen. Und das wir dadurch die Grenze zwischen dem Menschen und dem Anderen niederreißen. Das wäre eine Aufgabe für das Anthropozän: Uns in uns selbst mit dem anderen zu versöhnen. (7:16) Eine Idee des Anthropozäns bestünde darin, dass wir aus dem Naturhaften, was auch in uns organischen Wesen steckt, die Idee einer Kultur, die auf Gegenseitigkeit beruht, gewinnen können. Das wäre in meinen Augen der Durchbruch im Anthropozän. (9:00) Nur so können wir eine nachhaltige Welt gestalten. Weil wir nur so im Einklang mit der 'wirklichen Welt' bleiben. (11:40) Und dann kann es das Modell einer neuen Kultur werden. Dann ist es auch ein Modell von gelingenden Beziehungen. Und dann ist es sogar das Modell von Liebe.
Davon allerdings ist die Welt noch weit entfernt. Denn so ein Schritt heißt auch, dass nicht länger nur unsere Rationalität und Vernunft die Zivilisation prägt, sondern auch unsere Emotion über die Zerstörung von Natur zählt, unser Gefühl für richtig und falsch, unser Mitgefühl mit der mehr-als-menschlichen-Welt. Er heißt zudem, dass es statt um Beherrschung vielmehr um Dialog mit der Natur geht, statt Dominanz über Natur es um die Balance mit ihr geht.
Noch ist gar nicht absehbar, wie viel sich neu sortieren muss, wenn das Grundparadigma des Dualismus über Bord geworfen wird. Gefordert wäre dann, das Anthropozän als Chance zu begreifen, die Rolle des Menschen kritisch zu überdenken, um als ‚Anthropos‘ wirklich überlebensfähig zu werden, statt uns selbst aus der Evolution zu werfen. Darin liegt eine immense Herausforderung für die Kultur, Denn es geht darum, unsere Einheit und Verbundenheit mit der Welt zur Grundlage all unseres Handelsns zu machen, sagt der englische Autor und Professor für Ökologie, Stephan Harding. Ich zitiere ihn:
Es ist schwierig über diese zentrale Erfahrung der Einheit mit der Natur zu reden. Denn sie liegt jenseits der Worte. Die Erfahrung der grundlegenden Verbundenheit war immer schon Thema der Religionen, der Philosophie, Stoff von Mythen und Geschichten. Da lässt sich nicht drüber diskutieren. Um sich dem anzunähern, braucht man Poesie. Unsere kulturelle Rolle wäre dann die von Bewunderern der Schöpfung, die wir in Mythen besingen, als Geschichtenerzähler, die das Nichtsichtbare beschreiben. Unser Einfluss sollte physisch minimiert werden und mythologisch, innerlich, geistig wachsen. Da sehe ich unsere Rolle: Als Schöpfer von Ritualen, Kunst, Philosophie, Wissen, Dichtung, Literatur, aber nicht als Erfinder von Mega-Technologie .
Gefragt wären für das Anthropozän, wo jetzt der Mensch am Steuer sitzt, dann also ethische Werte, die dazu führen, seinen schädlichen Einfluss zurückzufahren, den Mythos von ewigem Wachstum zu überwinden, den Kontrollwahn über die Natur abzulegen. Das wissenschaftliche Ziel der ‚Naturbeherrschung‘ müsste dem Verstehen des Lebens weichen. Und das religiöse Ziel, sich die 'Erde untertan zu machen', gehörte dann auf den Müllhaufen der Geschichte.
Erstaunlicherweise hat das – obwohl sie über Jahrhunderte die Trennung von Natur und Mensch betonte – nun nach der Öko- und Alternativbewegung zuerst die Kirche verstanden. In der Umwelt-Enzyklika ‚Laudatio Si‘ – ‚Zum Lobe der Schöpfung‘ spricht Papst Franziskus von ‚Mutter Erde‘, von einer Religion der Verbundenheit, von Kooperation mit der Natur, von einem gänzlich neuen Denken, staunt Markus Voigt, Theologie-Professor an der Münchner Uni und Berater der Deutschen Bischofskonferenz in Umweltfragensagt das so:
Im Kern ist es eine völlige Neuorientierung, die einen politischen Ansatz hat. Das Lob der Schöpfung, die Freude über die Schönheit der Schöpfung steht im Mittelpunkt. Mit befreiungstheologischen, machtkritischen Analysen wird auch die Schuld von dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem benannt. Die radikale Kritik an der gegenwärtigen Geldlogik, an Machtverteilungen ist sehr deutlich. Es ist eine kulturhistorische Wende in Bezug auf die Tradition des 19. Jahrhunderts. Es geht eben nicht um ein bisschen reparieren, bisschen mehr Technik, sondern es geht um die Frage der Lebensstile, der Lebensweise insgesamt.
Da deutet sich tatsächlich ein Kulturwandel an: Nach einem schonungslosen Blick auf die bedrohliche Realität menschlicher Selbstüberschätzung passiert eine Neubesinnung im Denken, in der Ethik, im menschlichen Selbstbild: In der Philosophie, in der Wissenschaft, in der Religion. All das wird gestützt von einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit und massiv eingefordert von den Kirchen und der globalen Zivilgesellschaft mit ihren Millionen von Initiativen für eine andere Zukunft.
Kultureller Wandel bewegt sich im Schneckentempo. Das funktioniert selten innerhalb einer Legislaturperiode. Mit der Klimabewegung der letzten Jahre könnte – und müsste – sich das ändern. Die Politik gerät nach Jahren des Stillstandes wieder in Bewegung. US-Präsident Joe Biden nimmt das Anthropozän ernst, wenn er den Klimawandel ganz oben auf die Agenda stellt. Hier bei uns haben die 'Grünen' die 'C-Parteien' in den Meinungsumfragen überholt. Ein Umdenken hat begonnen. In Zeiten des Klimawandels hat der neue Begriff des ‚Anthropozäns‘ eine Dramatik entwickelt, die beachtlich ist.
Ich fasse zusammen:
Das 'Anthropozän' ist vordergründig außerordentlich bedrohlich, wenn es als Legitimation der menschlichen Überlegenheit und Kontrolle über die Erde und ihre Naturprozesse missbraucht wird. Ich sehe aber auch eine Chance für ein Umdenekn durch diesen Begriff. Nämlich wenn wirklich begriffen wird, dass mit der Formulierung des Anthropozäns die klassische Trennung der dualistischen Naturwissenschaft zwischen Mensch und Natur quasi aufgehoben ist. Zugunsten einer ganzheitlichen Sichtweise, die von zahllosen Interdependenzen zwischen Mensch und Natur ausgeht und konstatiert, dass der Mensch als Teil des Gesamtsystems einen enormen Einfluss hat.
Mit dem Abschied von einem dualistischen Menschenbild kommt dann aber richtig viel ins Rutschen, eigentlich das Paradigma der Wissenschaft der letzten 250 Jahre, das immer Mensch und Natur trennte und daraus die moderne wissenschaftliche Welt erbaute. Wenn das jetzt kippt – ja kippen muss – dann ist das eine kulturhistorische Wende in unserem Welt- und Menschenbild. Und es fordert uns auf, angesichts dieses unerwarteten Paradigmenwechsels eine neue ökologische Ethik zu formulieren, die auf ein systemisch-ökologisches Weltbild der Verbundenheit aufbaut.
Dann werden die tiefenökologischen Ansätze eines verwobenen und interdependenten 'Netz des Lebens', in dem die 'Umwelt' zur 'Mitwelt' wird, plötzlich zum möglichen Mainstream. Dann kann die angebliche esoterische Gaia-Theorie – welche die Biosphäre als ein untrennbares lebendiges Ganzes und als Organismus beschrieb – rehabilitiert werden. Dann ist das buddhistische Konzept des 'Interbeing' – also ein Inter-Sein, eine Verwobenheit alles Phänomene – plötzlich die geistige-spirituelle Rückendeckung für Crutzens Konzept des Anthropozän.
Dann wird letztendlich die Erkenntnis des Titels dieser Tagung 'Das große Ganze – und wir mittendrin' die umgangssprachliche Überschrift für ein neues Narrativ: Nämlich nicht weniger als einer neuen 'Schöpfungsgeschichte' als Grundlage all unseres Handelns. Eines Narrativs, dass uns aufzeigt, dass wir mit dem alten Weltbild gescheitert und an den Rand des Suizids gekommen sind. Und eines neuen Narrativs, dass die die Grundlage bilden könnte für eine wirklich nachhaltige und regenerative Kultur. Das wäre die Aufgabe des Anthropäns. Und dieses Narrativ müsste überall erzählt werden: Auf Bühnen, in Schulen, an Unis, in Politik, in Wirtschaft – und in den Kirchen.
Vielen Dank für ihr Zuhören!
Literatur:
- Crutzen, Paul & Peter Slotedijk: Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Edition unseid 2011
- Gottwald, Theo & Anita Krätzer: Irrweg Bioökonomie. Kritik an einem totalitären Ansatz, edition unseid, 2015
- Harding, Stephan: Lebendige Erde: Gaia. Vom respektvollen Umgang mit der Erde, Sphinx-Verlag
- Weber, Andreas: Enlivenment. Versuch einer Poetik für das Anthropozän, Mathes & Seitz, Berlin Februar 2016
- Weber, Andreas und Hildegard Kurt: Lebendigkeit sei! Für eine Politik des Lebens. Ein Manifest für das Anthropozän, think oya, 2015
- Trischler; Helmuth (Hrsg u.a.): Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde, Deutsches Museum, Katalog zur Ausstellung, 2015
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Rainer Kirmse , Altenburg (Donnerstag, 07 Dezember 2023 14:06)
MENSCH UND NATUR - Gedicht
Der Mensch macht sich die Erde Untertan,
die Natur muss leiden im Wachstumswahn.
Autos werden größer, Straßen breiter,
der Wald dagegen schrumpft immer weiter.
Homo sapiens braucht jetzt kluge Ideen,
muss sich als Teil von Mutter Natur seh'n.
Man produziert und produziert,
plündert Ressourcen ungeniert.
Gewinnmaximierung ist Pflicht,
die intakte Natur zählt nicht.
Börsenkurse steh'n im Fokus,
Umweltschutz in den Lokus.
Plastikflut und Wegwerftrend,
man konsumiert permanent.
Nur unser ständiges Kaufen
hält das System am Laufen.
Unser westlicher Lebensstil
taugt nicht als Menschheitsziel.
Die Jagd nach ewigem Wachstum
bringt letztlich den Planeten um.
Das oberste Gebot der Zeit
muss heißen Nachhaltigkeit.
Statt nur nach Profit zu streben,
im Einklang mit der Natur leben.
Zu viele Buchen und Eichen
mussten schon der Kohle weichen.
Retten wir den herrlichen Wald,
bewahren die Artenvielfalt.
Kämpfen wir für Mutter Erde,
dass sie nicht zur Wüste werde.
Wir alle stehen in der Pflicht,
maßvoll leben ist kein Verzicht.
Teilen und Second Hand der Trend,
Repair vor Neukauf konsequent.
Bei allem etwas Enthaltsamkeit,
nehmen wir uns die Freiheit.
Rainer Kirmse , Altenburg
Herzliche Grüße aus Thüringen
Maiken (Donnerstag, 07 Dezember 2023 14:31)
Danke, Rainer, sehr schön gesagt! Wenn nur mehr menschen so denken - und entsprechend handeln- würden!